Irrungen, Wirrungen

Theodor Fontane

Buch, Broschiert
Ausgabe vom Januar 2008
Verkaufsrang: 670302 (je kleiner desto beliebter)
ASIN: 3123525147 (Amazon-Bestellnummer)
Irrungen, Wirrungen - Theodor Fontane
Fontanes Geschichte von Lene Nimptsch, die mit ihrer Pflegemutter in kleinbürgerlichen Verhältnissen lebt und eines Tages dem jungen Botho von Rienäcker begegnet, spaltete seinerzeit die Gemüter. Die kleine Plätterin und der Baron verbringen einen glücklichen Sommer zusammen und wissen doch zugleich, daß ihrer Liebe Schranken gesetzt sind, denn eine Heirat gegen den Stand ist undenkbar. Daß Fontane das Liebesverhältnis der beiden so unbefangen schilderte, nahmen ihm Adlige wie Sittlichkeitsfanatiker übel, gleichzeitig jedoch wurde der Roman zu einem großen Erfolg und machte Fontane für seine Zeit zu einem -Modernen Autor-.


Das Bemerkenswerte an diesem Roman ist nämlich das, was n i c h t passiert: Die unstandesgemäß verliebte Lene wird nicht unehrenhaft schwanger, sie stirbt auch nicht an gebrochenem Herzen oder der Schwindsucht, sie stürzt sich nicht verzweifelt in den Landwehrkanal, endet nicht in Schimpf und Schande, entpuppt sich aber auch nicht im letzten Moment als verloren geglaubte Herzogstochter, sondern macht eine "gute Partie" -- Fontane streut zwar immer wieder Hinweise, die diese und ähnliche Entwicklungen hätten einleiten können (und sie bei einem schlechteren Autor auch eingeleitet hätten), aber das sind falsche Fährten, deren Bedeutung sich erst vor dem zeitgenössischen Hintergrund klärt. Enttäuschte Lesererwartungen als das eigentliche Spannungsmoment, so könnte man es vielleicht formulieren.
Die Liebesgeschichte zwischen dem für einen preußischen Offizier der 1870er Jahre erstaunlich geistreichen und unarroganten Botho von Rienäcker und seiner Lene endet vordergründig so, wie man es erwartet: Am Ende heiratet jeder in seinem Stand und trauert der einzigen Liebe nach.
Es sind nämlich die vielen kleinen Pointen, die Fontane immer wieder einbaut und die den Roman lesenswert machen: Botho, der sich der Familienfinanzen wegen standesgemäß vermählt, bekommt als Frau genau die Sorte hübscher Kleiderständer, die er zuvor im Kreise der "kleinen Leute" noch wunderbar parodiert hat. In einer anderen Szene nimmt er die Mittagspause der Borsig-Arbeiter von ferne (!) als Idyll wahr -- zu einer Zeit, als Adolph Menzel schon sein "Walzwerk" gemalt hatte! Szenen wie diese gibt es einige -- ihnen gemeinsam ist die verschobene Perspektive der "Besseren Gesellschaft", der der realistische Blick der niederen Stände gegenübergestellt wird. Klar, wen die Militärordnung dazu verdonnert, sich vornehmlich unter seinesgleichen aufzuhalten, dem verstellen am Ende die Klischees den Blick, und er kann einer Borniertheit nicht entgehen, die etwa die Werke von Humboldt und Ranke nassforsch als "reine Abschreibesache" klassifiziert.
Und der damals sakrosankte Bismarck bekommt freilich auch sein Fett weg -- wie bei Fontane nicht anders zu erwarten. Aber das nur am Rande.
Man kann also sagen, dass Fontane die vielen falschen Fährten in diesem Roman für die Angehörigen eben jener Offizierskaste gelegt hat, deren Borniertheit er ins Visier nimmt, und der Trick ist ihm gelungen: Die zeitgenössische Kritik übersah die Pointe und nannte "Irrungen Wirrungen" allen Ernstes eine "gräßliche Hurengeschichte"... Irrungen und Wirrungen eben, wohin man nur schaut.

Vordergründig also eine tragische Liebesgeschichte von der Stange -- die Spitzen gegen die wilhelminische Ständegesellschaft sind gut versteckt. Aus diesem Grund dürfte "Irrungen Wirrungen" auch heute noch oft als trivial eingestuft werden, denn ohne Kenntnisse über die gesellschaftlichen und historischen Hintergründe bleibt einem die Stoßrichtung verborgen. Vielleicht sollte man auch deswegen einen anderen Roman von Fontane als Schullektüre wählen.