Dr. Sex: Roman

T. C. Boyle

Taschenbuch
Ausgabe vom 1. April 2007
Verkaufsrang: 125398 (je kleiner desto beliebter)
EAN/ISBN: 9783423209816
ASIN: 342320981X (Amazon-Bestellnummer)
Dr. Sex: Roman - T. C. Boyle
Nun, da Prok tot ist, wandern Milks Erinnerungen noch einmal zurück zu jenem Herbsttag 1939, an dem man im Hörsaal des Instituts für Biologie an der Universität von Indiana eine Stecknadel hätte fallen hören können. Studenten und Studentinnen bekamen heiße Ohren angesichts des Gehörten und vor allem Gezeigten. Was der Professor, von allen nur "Prok" genannt, in drastischen Bildern an die Wand warf, waren nichts weniger als nackte Tatsachen. Erigierte Penisse, feuchte Vaginen. Fruchtfliege und Blütenstaub hatten ausgedient. Der Zoologe Alfred C. Kinsey hatte sein Lebensthema gefunden: Die Erforschung des Sexuallebens von Mann und Frau. Eine Revolution fand statt. Und einer sollte bald dem inneren Zirkel um Prok angehören: Der schüchterne Studiosus John Milk.
Unter dem unglücklichen, BRAVO-haft verklemmten deutschen Titel, entwirft Boyle einen grandiosen Sittenspiegel sexueller Verklemmungen und Neurosen. Proks These, "den körperlichen Aspekt von Sex vollkommen von seinem emotionalen oder spirituellen Kontext zu trennen", führt den Jungforscher Milk dabei zusehends ins Dilemma: Während Kommilitonin Iris erste zarte Liebesgefühle in ihm weckt, muss er im Dienste der Forschung nachts in Schränke kriechen, um den Stellungskrieg einer Prostituierten mit ihrer Kundschaft zu dokumentieren, darf beim Statistikfestival "Onanieren der Tausend" selbst mitrubbeln, und soll am Ende sogar seine Iris zum Partnertausch aus der Hand geben.
Boyle-Leser wissen, dass alles Messianische und Eifernde bei TCB besonders misstrauisch beäugt wird. Langsam entdeckt Milk, dass der Mann, der der Sexualität den Weg aus dem Unaussprechlichen verhalf, am Ende selbst als besessener und emotionsloser Messtechniker und Sextechnokrat dasteht. Allzu begierige Leser seinen gebremst! Was bei einem solchen Thema nahe läge, die exzessive Schilderung sexueller Handlungen, wird von Boyle klug und eher behutsam eingesetzt. Wichtiger ist die eigentliche Botschaft des Romans, Milks Erfahrung, dass jenseits aller Messdaten über konvulsivische Zuckungen, Erektionsdauer und Gleitsekrete, ein viel größeres Reich zu entdecken ist: Das der Emotionen, der Irrationalität und Zärtlichkeit ? das der Liebe. Diese Entdeckung blieb dem harmlosen Assistenten John Milk vorbehalten. T. C. Boyle gelang ein atemberaubendes Stück Zeit- und eine noch zartere Liebesgeschichte. ?Ravi Unger
T. C. Boyle im Interview
"Was für den einen pervers, ist die Sahne im Leben des anderen."
Lesen Sie unser exklusives Interview mit T.C. Boyle über seinen Roman Dr. Sex, der auch fünfzig Jahre nach dem Kinsey-Skandal wieder für Aufruhr unter den Moralaposteln sorgte.


Wenn Jan Josef Liefers diese Geschichte um den legendären Sexforscher Alfred Charles Kinsey und den Kreis seiner engsten Mitarbeiter liest, dann passt das von der ersten bis zur letzten der 325 Minuten. Er trifft genau die Stimmung dieser äußerst spannenden Zeit, die mit einer sexuellen Revolution und der Befreiung des Protagonisten endet. Es ist die beeindruckende Art, wie Liefers die Mischung aus anfänglicher absoluter Bewunderung des Icherzählers für den Pionier und Magier, der intensiv erlebten Mitarbeit an einem beispiellosen Projekt und der langsamen Befreiung von diesem "Übervater" interpretiert, die dieses Hörbuch mit dem zur Zeit aktuellen Thema zu einem echten Highlight machen.
Vor dem Hintergrund der Forschungsarbeit Professor Kinseys, der auf der Basis von Interviews mit Frauen und Männern unterschiedlichster Provenienz wissenschaftlich fundierte Untersuchungen über die sexuellen Gepflogenheiten des "menschlichen Säugetiers" veröffentlichte und damit nicht nur in Amerika eine Welle der Entrüstung auslöste, erzählt T.C. Boyle die Erlebnisse eines jungen fiktiven Mitarbeiters des Sexforschers. Dieser erlebt die Zeit mit Prok, wie Professor Kinsey genannt wird, als aufregende Periode seines Lebens. Die Mitarbeit an dem revolutionären Projekt, die ersten sexuellen Erfahrungen, seine Ehe mit Iris, bis hin zu seiner Loslösung - der Sprecher lässt den eigentlichen Protagonisten lebendig werden. Er gibt die Perspektive des langsam sich befreienden John, der sich niemals gegen Prok aufzulehnen traut, überzeugend wieder. Wenn er den fanatischen, teilweise auch skrupellosen Kinsey spricht, hört man gleichzeitig den Einfluss, den er auf seinen vertrauten Mitarbeiter hat.
Jan Josef Liefers, als Bühnen- wie auch als Filmschauspieler (Das Wunder von Lengede von 2003) geschätzt, arbeitet in seiner Lesung die Macht und Respektlosigkeit des objektiven und sachlichen Wissenschaftlers gegenüber anderen heraus. Seine Tonlage vermittelt von Anfang an die verdeckte Opposition gegen die Allmacht der reinen Physiologie und lässt das Einverständnis John Milks mit Gefühlen ahnen. Den Zweifeln des Icherzählers mit seinen direkten Ansprachen an den Hörer schenkt er eine authentische Stimme. Weshalb dieser so lange in den Bann Kinseys gezogen war, bei Liefers klingt es völlig nachvollziehbar.
Fazit: Liefers interpretiert die Geschichte eines genialen und fanatischen Reformers und eines jungen Mannes, der sich von dessen Einfluss befreien kann, der sich - ganz romantisch - für die Liebe entscheidet. Eine großartige Lesung, die Lust auf die Brigitte-Lesetour mit ihm macht.
Autorisierte Lesung, Spieldauer: ca. 325 Minuten, 4 CDs. Mit Infos. - culture.text