Nintendo, 'Game Boy'

David Sheff

Buch, Gebunden
Ausgabe vom 1993
Verkaufsrang: 724942 (je kleiner desto beliebter)
EAN/ISBN: 9783442306008
ASIN: 3442306000 (Amazon-Bestellnummer)
Nintendo, 'Game Boy' - David Sheff
Die Botschaft ist klar: Eltern, kauft keinen Game Boy. Doch für diese Warnung ist es wohl zu spät: Amerikanische Kinder haben bereits im Jahr 1992 ca. 75.000 Menschenjahre vor Videospielen sitzend verbracht - eine beklemmende Zukunft und ein gigantischer Wachstumsmarkt, wenn man bedenkt, dass diese Art der Freizeitbewältigung in Kinderhand erst seit wenigen Jahren so richtig unter dem Christbaum zu finden war.
Wenn es nun bloß Kinderspielzeug wäre, was da in Form eines taschenrechner-großen, meist mehr als einhundert Mark teueren Geräts (Game Boy) in unsere Kinderzimmer und -hirne käme, könnte man getrost darauf warten, dass diese Spiel- und Entwicklungsphase vorbei wäre - so eine Begeisterung legt sich ja auch irgendwann wieder.
Doch da haben Eltern weltweit nicht mit der raffinierten Vermarktungsstrategie des japanischen Mammutkonzerns NINTENDO und seinen 850 Mitarbeitern gerechnet. Nebenbei ist es unfassbar, dass selbst Sony und Daimler Benz mit ihren -zigtausend Mitarbeitern in der gleichen Zeit weit weniger verdienten als NINTENDO: Eine Milliarde Reingewinn nur mit diesem elektronischen Spielzeug.
Kleine, trojanische Pferde hat uns Hiroshi Yamauchi, der Konzernboss, ins Kinderzimmer geschmuggelt. Stundenlang jagen die Kleinen äußerst konzentriert einen hamsterartigen Klempner namens Mario durch eine abenteuerliche und gefährliche Fantasielandschaft. Harmlos wie es scheint.
Doch die Welt werden wir nicht wiedererkennen, wenn unsere Kiddies eines Tages die Konsole ihres Game Boy aufschrauben, einen Computerstecker anstöpseln und mit Millionen anderen in einem weltumspannenden Supermarkt-Datenpool abtauchen. Unsere Telefonleitungen, CD- , Video-Player und Fernsehgeräte werden über Modems die nötigen Verbindungen schaffen, um mit dem unscheinbaren Spielzeug von NINTENDO Pizzas, Disks, Aktien, Lexikotheken, Versicherungen, Zugfahrpläne, Urlaubsbuchungen, Partnervermittlungen undsoweiter bequem von jedem Punkt der Erde aus zu bestellen, ganz wie es dem Anwender beliebt - ein Markt mit einem Volumen von 3.500.000.000.000 US-$ jährlich, mehr als unser bundesdeutsches Bruttosozialprodukt. Auch hier ist die Botschaft wieder klar: Nur wer kauft - lebt.
Ein Highway, eine Autobahn der Datenwelt und alles nur mit Nintendogeräten. Das ist so, wie wenn Gottlieb Daimler zuerst ein Spielzeugauto gebaut und erfolgreich an alle Kinder der Welt verkauft hätte, um nach 15 Jahren dann auf einen Schlag 1 Milliarde richtige Autos zu vermarkten. Gigantisch, aber auch unheimlich, welche Macht darin schlummert und gegebenenfalls in einer nicht allzu fernen Zukunft missbraucht werden kann.
Nicht nur dem Buchautor David Sheff ist klar, dass man diese Entwicklung zur Informationsgesellschaft und zu vernetzten Computer-Multimedia-Systemen leider nicht mehr aufhalten kann. Die Erwachsenen von Morgen werden noch länger und intensiver ihre Welt vom heimatlichen Sessel aus mit Bildschirm und Tastatur begreifen und den Direktkontakt mit der Natur meiden. Vielleicht werden deren Kinder einmal überhaupt nicht mehr die urbane Umgebung verlassen, wozu auch - die Welt kommt per Tastatur ins Wohnzimmer.
Trotz der Brisanz des Themas legt sich Sheff in seinem Buch aber lediglich die Frage vor, ob es wohl NINTENDO oder eine andere multinationale Computer- oder Telefongesellschaft sein wird, die diesen Markt dominiert. Die Frage, ob diese Entwicklung und der Gebrauch dieser Systeme für uns und unsere nachfolgenden Generationen wünschenswert und ungefährlich ist, die stellt er allerdings nirgendwo. Und dies angesichts amerikanischer Teenies, die bereits mit epileptischen Anfällen vor ihren Videospielen zusammengebrochen sind.
Das Buch selbst lohnt daher allenfalls als Informationsquelle über den Videospielmarkt im allgemeinen und dieses japanische Unternehmen und seine gesellschaftlich kaum lobenswerten Strategien im besonderen. Bedauerlicherweise steht der Autor dem Gesamtproblem viel zu unkritisch gegenüber und liefert so höchstens Hofberichterstattung über NINTENDO.
Zweitens ist sein Sachbuch stilistisch so total ermüdend, dass er auf über 500 Seiten Fakten und Informationen immer wieder neu aufbereitet und den armen Leser mit persönlichen Detailinformationen bis zum Lebenslauf des Lagerarbeiters bei Nintendo of Amerika (NOA) in Seattle langweilt. Elektrisierend sind allerdings die dazwischengestreuten Zahlen: 114 Millionen Geräte konnte NINTENDO 1992 weltweit absetzen - nach der Lektüre dieses Buches werde ich meinen Kindern ganz sicher keinen Game Boy schenken. -Manuela Haselberger