1979: Ein Roman

Christian Kracht

Buch, Broschiert
Ausgabe vom 4. August 2010
Verkaufsrang: 17505 (je kleiner desto beliebter)
EAN/ISBN: 9783596185306
ASIN: 3596185300 (Amazon-Bestellnummer)
1979: Ein Roman - Christian Kracht
Christian Kracht reagiert angeblich allergisch auf das Wort "Pop". Komisch, denn immerhin hat er mit seinem Deutschlandreise-Roman Faserland vor sechs Jahren einen regelrechten Boom junger deutscher Popliteratur losgetreten. Inzwischen ist die Welle abgeflaut - und es sieht so aus, als wolle nun niemand dabei gewesen sein. Sein Co-Modell Stuckrad-Barre macht ernste Literatur und der nach Bangkok exilierte Kracht schrieb eine ganze Weile nur Reiseglossen für die Welt am Sonntag.
Jetzt erscheint 1979, gewissermaßen das Come-back des Popliteraten wider Willen, ein erstaunliches Buch. Erstaunlich erst einmal, weil sich im Ton und in der Haltung auf den ersten Blick wenig geändert hat. Wieder geht ein obsessiv mit sich und seinen Kleidungsstücken beschäftigter "Ich-Ich-Ich-Erzähler" auf Reisen, nur diesmal eben nicht von Sylt an den Bodensee, sondern erst durchs revolutionsgeschüttelte Teheran und dann via Tibet nach China.
In Teheran dröhnt der Lärm von Panzern durch die Straßen, der Staatsstreich steht kurz bevor, doch der Erzähler interessiert sich vor allem für Innenarchitektur, insbesondere für "mit gestreifter brombeerfarbener Seide bezogene Empire-Chaiselongues". Krachts Blick auf die Welt ist der eines Dandys, der sich schnell einmal übergibt, wenn jemand im Park von "vier schwarzgekleideten bärtigen Männern" verprügelt wird und der sich sogar vor seiner eigenen Spucke ekelt. Für den deutschen Alltag zwischen Cocktailparty und Aldi-Kassenschlange war diese Wahrnehmung sehr produktiv, vor dem Hintergrund einer islamischen Revolution wirkt sie nur grotesk.
Natürlich wird es auf die Dauer langweilig, Kracht immerzu Nabelschau vorzuwerfen, und insofern ist es gut, dass der neue Roman auch eine existenziell-spirituelle Dimension bereit hält. Erst stirbt ein geliebter Freund, dann erhält die Hauptfigur von irgendwelchen Revolutionären den Auftrag, in China auf einen heiligen Berg zu steigen, um sich oder die Welt (so klar wird das nicht) zu heilen. Schließlich landet er in einem kommunistischen Straflager, wo ihn aber auch wieder hauptsächlich das Essen stört, das "heftige Blähungen" auslöst. Beim Lesen fragt man sich: Ist das Polit-Satire? Oder Literatur-Parodie? Wie gesagt: ein erstaunliches Buch, das einen ratlos zurücklässt. -Oliver Fuchs

Mitglied des popliterarischen Quintetts gewesen zu sein, ist wie Mitglied einer terroristischen Vereinigung oder einer Boyband gewesen zu sein: Es wird einem nicht so schnell verziehen. Wie seine vier Freunde bezahlt auch Christian Kracht noch heute dafür, 1999 das tatsächlich etwas unangenehme Diskursbuch Tristesse Royale ko-vollgequatscht zu haben. Er muss nun mit all den üblichen Vorwürfen leben: mit dem Pop-Vorwurf, dem Schnösel-Vorwurf, womöglich sogar Spaßgesellschaft, und überhaupt.
Vielleicht ist es da Berechnung (wahrscheinlich aber nicht), dass Kracht seinen zweiten Roman 1979 nicht im deutschen Gegenwartsalltag ansiedelt, sondern zunächst im krisengebeutelten Teheran des titelstiftenden Jahres, später in den Bergen Tibets, schließlich sogar im chinesischen Arbeitslager. Geschildert wird die Odyssee eines Ich-Erzählers, dem erst der Freund wegstirbt und der daraufhin einem alten Brauch folgend einen heiligen Berg umwandern will, um sich von seinen Sünden reinzuwaschen und überhaupt einmal ein Ziel vor Augen zu haben. Das Reinwaschen der Sünden klappt nicht, stattdessen erfolgt nach der Bergumwanderung die Verhaftung durch chinesische Soldaten. Im Arbeitslager fügt sich der Erzähler bald gar nicht mal unglücklich in sein Schicksal, vermutlich weil die Regeln und Strukturen im Lager konstant und eindeutig sind, anders als in der komplizierten Außenwelt.
Die Hauptfigur braucht nicht lang bis sie dem Leser zum ersten Mal erzählt, wessen Musik sie hört und von welcher Marke Schuhwerk und Einstecktuch sind. "Aha!", mögen da die Besserwisser und Rechthaber brüllen, und: "Popliteratur!" Aber wer brüllt lügt und übersieht, dass die Beschreibung des Banalen hier nur einen Bruchteil der Erzählung einnimmt, und zwar einen notwendigen. Musikgeschmack und Garderobe sind Ausdruck des Charakters, also ist es völlig legitim, eine Figur zumindest teilweise darüber zu definieren. Das ist nicht oberflächlich, sondern effizient. Es erlaubt dem Autor, auf anderen, wichtigeren Gebieten schneller zur Sache zu kommen. Und Christian Kracht beackert hier eine Menge anderer Gebiete auf nur drei CDs. Seine Schilderung der komplizierten Beziehung zwischen der Hauptfigur und ihrem schwer kranken Freund ist bewegend und nachvollziehbar, die Milieubeschreibungen vom billigen Hotelzimmer in Teheran bis zur Bergwelt Tibets ist immerhin gut ausgedacht, die Suche der Hauptfigur nach Erleuchtung oder Ähnlichem wirkt nicht aufgesetzt und ist erfreulich plattitüdenfrei.
Im Hintergrund dieser Hörbuchaufnahme knackt es, als höre man eine ohne Sorgfalt gereinigte Vinylplatte. Die Intention dieses Gimmicks wird nicht ganz klar. Weil es 1979 noch keine CDs gab? Oder ist es nur eine Schnöselmarotte? Im Grunde ist es egal, denn es stört ebenso wenig wie es hilft. Es ist einfach da, so selbstverständlich, wie die Stimme Christian Krachts einfach da ist. Mit großer und angemessener Ernsthaftigkeit trägt er seine Groteske vor, nimmt sich viel Zeit, klingt dabei weitaus erwachsener, als sein jungenhaftes Pressefoto erahnen lässt. Vermutlich im Studio nachgeholfen. Aber was soll's, es ist angenehm, dieser Stimme zuzuhören. Vielleicht angenehmer, als die spröde, aber nicht uninteressante Geschichte selbst lesen zu müssen. -Andreas Neuenkirchen