Tunnel oder Der Tag als Mutter von mir ging

Fréderic Klein

Hörbuch, Audio CD
Ausgabe vom 28. November 2009
Verkaufsrang: 645185 (je kleiner desto beliebter)
EAN/ISBN: 9783785742211
ASIN: 3785742215 (Amazon-Bestellnummer)
Tunnel oder Der Tag als Mutter von mir ging - Fréderic Klein
Der Name des Autors - Frédéric Klein - ist ein Pseudonym. Der Verlag druckt nur ein Photo ab, mit der Unterschrift der Autor sei Absolvent einer französichen Eliteschule und unterrichte Latein und Griechisch am Gymnasium. Er ist 45 Jahre alt und lebt in Paris, ein Roman liegt bereits vor: Maniaque, der mir jedoch unbekannt ist.
Tunnel oder Der Tag als Mutter von mir ging ist ein autobiographischer Roman, der seine Leser ständig in Unklarheit über den Protagonisten läßt. So wird nie der Name des Erzählers genannt, ja sogar die Entscheidung über den Realitätsgehalt seiner Erlebnisse bleibt am Ende dem Leser überlassen.
Der Einstieg in den Roman beginnt am Ende der Handlung, wo dem Erzähler nur noch ein Ausweg bleibt. Er befindet sich in einem Eisenbahntunnel, im Begriff sich umzubringen und der Welt seine Aufzeichnungen zu hinterlassen, die Aufklärung verschaffen sollen. Aber Aufklärung worüber?
Wir landen in den Kindheitserinnerungen des Erzählers, die auf eine Erklärung hinauslaufen, warum er zum Misanthropen, zum Mörder, zur Bestie, ja sogar zum Völkermörder wird.
Seine Kindheit ist von totaler Leistungskontrolle und Abschottung zu seiner Umwelt gekennzeichnet. Die Eltern verbieten ihm mit den Kinderen der Nachbarschaft zu spielen, um schlechten Einflüsse von Außen direkt vorzubeugen, ein Fernseher wird nicht angeschafft, um dem Kind keine Ablenkung zu verschaffen - es soll seine Hausaufgaben machen, einmal der Beste sein und eine Karriere machen, die über die des Vaters, der Lehrer an der Grundschule ist, hinausgeht. Und tatsächlich schlummert einige Begabung im Jungen: "Ich konnte sehr früh lesen, lange bevor ich in die erste Grundschulklassse gekommen bin. Ich habe es mir sozusagen alleine beigebracht. Um zu üben lese ich mit lauter Stimme die Todesanzeigen in der Lokalzeitung. Meine Eltern sind stolz auf meinen Eifer."
Da der Junge keine Freunde hat und auch anscheinend keine schließen kann und auch die Eltern keine großartigen sozialen Kontakte pflegen, versenkt er sich in eine Phantasiewelt, die sich ausschließlich um Lokomotiven dreht, die er von dem Fenster seines Zimmers aus beobachten kann.
"Fast jeden Abend male ich, nachdem ich meine Hausaufgaben gemacht habe, mit dem Bleistift stundenlang Lokomotiven, Waggons, Tunnel, Viadukte auf weißes Papier. Ich sehe mich selbst als Lokomotivführer mit schweißverschmiertem Gesicht. Meine Zeichnungen kommen mir sehr gelungen vor: meine Inspiration beläßt es bei diesen wenigen Motiven, aber hierin habe ich es zu wahrer Meisterschaft gebracht. Ich bemühe mich nicht um Realismus: auch wenn meine Züge in mancherlei Hinsicht an diejenigen erinnern, die ich vom Fenster aus beobachte, so sind es doch in erster Linie meine eigenen Schöpfungen, Traummaschinen."
Um ihren Sprößling aber auch auf der richtigen Linie zu halten, fleißig und artig zu sein haben sich die Eltern ein ausgeklügeltes Straf- und Belohnungssystem ausgedacht: "Wenn ich der Beste bin, so erhalte ich dafür kein gesondertes Lob; bin ich nur der Zweitbeste, bekommt mein nackter Rücken einen Peitschenhieb verabreicht; bin ich Drittbester, erhalte ich drei Hiebe - und so weiter."
So erscheint es nicht verwunderlich, daß sich der Junge eines Nachts aus seinem Zimmer schleicht, um einen dünnen, kaum sichtbaren Draht über ein paar Stufen im Hausflur zu spannen. Da die Mutter jeden Morgen die erste ist, die das Haus verläßt, glückt der Anschlag auch - sie fällt die Treppe hinunter, bricht sich das Genick. Der Sohn erzählt all dies ungerührt, nüchtern als sei es alltäglich, daß Söhne, die noch Kinder sind, ihre Mütter umbringen. Auch der strenge Blick des Vaters, der den Draht verschwinden läßt wird trocken kommentiert: "An dem Blick den er mir zuwirft, sehe ich, daß er nicht unglücklich ist. Er hat schon lange davon geträumt, Witwer zu sein."
Soweit also zur Kindheit des Erzählers, in der sich der Mord als Problem zur Konfliktlösung schon manifestiert. Der Erwachsene ist dann tatsächlich auf dem besten Wege seine Universitätskarriere zu machen, er ist Dozent und bekommt von allen Seiten Beteuerungen die besten Aussichten zu haben. Leider ist er nicht in der Lage sich innerhalb der Universität, ja noch nicht einmal innerhalb der Gesellschaft wirklich zu verorten. Er gilt als Sonderling, haßt es eigentlich reden zu müssen und betäubt seine Angst vor den Menschen nur zu gern mit Alkohol. Sein einziges Hobby ist die Eisenbahn geblieben, dessen er sich mit Hilfe seines guten Gehalts voll und ganz widmen kann: eine große Modelleisenbahn im Wohnzimmer, eine Wohnung mit Blick auf eine Eisenbahnlinie in der Stadt und lange Wanderungen entlang stillgelegter Bahngleise. Er reist am liebsten mit dem Zug, jedoch nicht mit den neuen, schnellen und komfortablen Modellen, sondern am liebsten mit älteren und langsamen Bimmelbahnen.
Er hat keinerlei sexuelle Beziehungen, sondern lebt seine Sexualität in seiner Besessenheit aus:
Im Kino schaue ich mir immer und immer wieder Hitchkocks Film Der unsichtbare Dritte an. An der langen, sehr langen Szene im Chicago Expreß kann ich mich einfach nicht satt sehen: die charmante Blondine umfaßt unter dem Vorwand, daß ich ihr Feuer gebe, mein Handgelenk und entfacht in mir die wilde Glut. Nach dem Essen gehe ich zur ihr in den Schlafwagen. Ich mache meine Hose naß, verlasse den Saal: das Ende des Films ist mir gleichgültig.
Daß er eines Tages an den unausweichlichen Konflikten zu seinen Mitmenschen scheitern muß ist nur noch eine Frage der Zeit. Er wird geheiratet, doch seine Frau trennt sich wieder von ihm. Sein Mittel ist - zum wiederholten Male - der Mord an ihrem Liebhaber. Als dann noch die Eskalation an der Uni kaum noch zu verhindern scheint wird er endgültig zu der Bestie, von der er schon in der Einleitung spricht. Es hält ihn nichts mehr, er sagt sich los von den Menschen, die er haßt, und flüchtet aus der Stadt, zieht ein Leben als Einsiedler vor. Er flüchtet auf einen alten, halb verfallenen Bahnhof an einer stillgelegten Strecke, zu der sogar ein alter Tunnel gehört. Das innere dieses Tunnels ist für ihn das Paradies auf der Erde. Keine Menschen, kein Licht, keine Geräusche - nur er und der Tunnel.
Diese Sehnsucht nach dem Tunnel kann man als eine Sehnsucht zurück in den Mutterleib deuten, auch wenn dies sehr stark an Freud angelehnt ist.
Interessanter finde ich dagegen die Erzählweise, die nur an wenigen Stellen die direkte wörtliche Rede verwendet, sondern zumeist komplett aus der Sicht des Erzählers erfolgt. Frédéric Klein spielt mit dem Leser, an keiner Stelle des Romans wird deutlich, auf welcher Ebene sich der Leser befindet. Phantasie des Protagonisten, oder des Autors? Und darin liegt auch ein gewisser Charme, in dieser ständigen Schizophrenie, mit der der Leser sich auseinandersetzen muß und die ihn an die Lektüre fesselt. Der ständige verachtende Blick des Erzählers auf seine Mitmenschen, der Haß und die Wut, die mithassen und wüten lassen. Doch der Roman endet mit einer Frage, die sich an den Leser wendet und rückblickend auf das Gelesene wieder alles im Offenen läßt...
Schon Hermann Hesse schrieb im Steppenwolf: "So wie die Verrücktheit, in einem höhern Sinn, der Anfang aller Weisheit ist, so ist Schizophrenie der Anfang aller Kunst, aller Phantasie." -Gunnar Michaelsen