Kantaten Vol.3:Himmelfahrt,Pfingsten,Trinitatis

Mathis, Schreier, Richter, Mbo

Musik-CD, Audio CD
Ausgabe vom 5. Oktober 1993
Verkaufsrang: 9601 (je kleiner desto beliebter)
EAN/ISBN: 0028943938020
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Kantaten Vol.3:Himmelfahrt,Pfingsten,Trinitatis - Mathis, Schreier, Richter, Mbo
Die 75 Bachkantaten, die Karl Richter für die "Archiv-Produktion" der "Deutschen Grammophon" eingespielt hat, verteilen sich bezüglich ihrer liturgischen Bestimmung über das gesamte Kirchenjahr. Daher sind die Aufnahmen unter diesem Gesichtspunkt fortlaufend in fünf Boxen zusammengestellt worden. Die vorliegende dritte reicht von Christi Himmelfahrt über Pfingsten bis hin zu den ersten vier Trinitatis-Sonntagen sowie zu den Festtagen Johannes des Täufers und "Mariä Heimsuchung". Unter den Kantaten, die bis auf eine Ausnahme aus Bachs Leipziger Zeit stammen und in den Jahren 1723 bis 1740 komponiert wurden, sind so beliebte Stücke wie BWV 147 "Herz und Mund und Tat und Leben", BWV 76 "Die Himmel erzählen die Ehre Gottes" oder die Pfingstkantate BWV 68 "Also hat Gott die Welt geliebt" mit der berühmten Sopranarie "Mein gläubiges Herze". Aufgenommen wurden die Stücke weitgehend 1975 im Münchner Herkulessaal, stammen also aus eine Zeit, da Karl Richter den voll ausgereiften "Spätstil" seiner Bachinterpretation erreicht hatte und mit einem Ensemble aus hervorragenden Musikern umsetzen konnte.
Dennoch macht es dem heutigen, an der mittlerweile fast zur Selbstverständlichkeit gewordenen historisierenden Aufführungspraxis geschulten Hörer über weite Strecken nur wenig Freude, diesen aufwendigen, monumentalen Interpretationen zu lauschen. Unsere Ohren sind gewöhnt an den durchsichtigen, flexiblen Klang kleiner und kleinster Besetzungen, an die trockenere, vibratoarme Tonproduktion historischer Instrumente und eine differenzierte Artikulation, durch welche der Zusammenhang von Musik und rhetorischen Figuren erst wirklich hörbar wird. Richter vertrat offenbar eine merkwürdige Art des Quellenpositivismus, die ihn eine einzige Spielart - meist Legato oder Stakkato - unerbittlich und gleichförmig durchhalten ließ, wenn die Noten keinerlei differenzierende Bezeichnungen aufweisen. Gleichzeitig jedoch geht er in seiner romantisierenden Auffassung von Bachs Musik davon aus, sämtliche Neuerungen, die das Musikleben nach 1750 im Bereich des Instrumentenbaus, der Spieltechniken oder der sich entwickelnden Chorkultur hervorbrachte, hemmungslos verwenden zu dürfen, als ob Bach ganz sicher auch so verfahren wäre, wenn er nur die Möglichkeiten gehabt hätte. Aber wie kann man beispielsweise annehmen, ein Laienchor mit dreistelliger Mitgliederstärke sei das Vokalensemble gewesen, das Bach sich erträumt hat?
Die großen Eingangschöre vieler der enthaltenen Kantaten ziehen in gleichförmiger Weise vorüber, die Chorpartien verklebt durch die colla parte spielende Orgel. Selbst in BWV 76, wo Bach dezidiert vorschreibt, dass der erste Abschnitt des Eingangssatzes solistisch zu besetzten sei, bleibt Richter beim Tutti. Unter den Gesangssolisten ist vor allem die Altistin Anna Reynolds zu erwähnen, die mit ihrer schönen, ausdrucksvollen Stimme einige Sternstunden hat: Hervorragend gelingt ihr die Arie "Gelobet sei der Herr, mein Gott, der ewig lebet" aus BWV 129, und souverän meistert sie auch das unendlich langsame Tempo der Altarie aus dem "Himmelfahrtsoratorium" BWV 11. Richter lässt hier die Streicher ohne Punkt und Komma Legato spielen; Kurt Thomas hat schon 1960 bei seiner Aufnahme des "Himmelfahrtsoratoriums" viel stärker differenziert. Dietrich Fischer-Dieskau löst das Problem, auf Grund langsamer Tempi oft nicht in größeren Bögen gestalten zu können, mit seinem gewohnten Farbenspiel aus dem Liedgesang, das hier deplaziert klingt. Edith Mathis tönt süffig-intensiv wie eine romantische Oboe, ohne jemals eine Nebensilbe abzuphrasieren, und Peter Schreier agiert solide in seiner direkten, etwas überartikulierten Vortragsweise. Die große Begeisterung, die Richter zu Lebzeiten bei Mitwirkenden und im Publikum zu erwecken verstand, lässt sich beim Hören der Aufnahmen zwar erahnen, aber nicht mehr unmittelbar erleben. Zu sehr ist sein Bachstil schon Geschichte geworden. -Michael Wersin