Fräulein Stark

Thomas Hürlimann

Buch, Broschiert
Ausgabe vom 21. August 2003
Verkaufsrang: 50399 (je kleiner desto beliebter)
EAN/ISBN: 9783596155484
ASIN: 3596155487 (Amazon-Bestellnummer)
Fräulein Stark - Thomas Hürlimann
Exakt zwanzig Jahre nach seinem Erstling unter dem Titel Die Tessinerin legt Thomas Hürlimann im Ammann Verlag einen Roman vor, der das Zeug zu einem Bestseller besitzt. Es ist die launische Sommergeschichte eines Heranwachsenden, eines aus katholischem Holz geschnitzten Jungen, der beim Onkel Monsignore, dem Biblitohekar des Stifts St.Gallen, dazu benötigt wird, den Besuchern der weltberühmten Klosterbibiliothek Filzpantinen zu verpassen, bevor sie den barocken Aufbewahrungsort alter Handschriften, Folianten und gebundenen Büchern betreten. Aus der Rückblende beschreibt Hürlimann diesen Sommer, der im Jungen das Interesse für das weibliche Geschlecht aus einer denkbar erregenden Perspektive weckt. Er sieht Waden, Beine, sein Kopf wird von Röcken umweht, seine Sinne werden vom Geruch wollener Socken genauso benebelt wie vom Parfüm Seidenstrümpfe tragender Damen. Und dieser Junge wagt, kecker und dreister werdend, bisweilen einen Blick unter die faltenreichen Zelte an den Ursprung der Welt. Dazu bedient er sich schliesslich eines Handteller grossen Spiegels - aber, oh Weh! Seine Erkundungen in den weiblichen Schritt fliegen auf, und der Junge erleidet zwischen dem Monsignore und dem Fräulein Stark, der Haushälterin des Stiftsbibliothekars, die dem Roman den Titel gab, regelrechte Höllenqualen. Er wird gemaßregelt, weil er gegen das sechste Gebot versündigt.
Hürlimann hat eine federleichte Prosa geschrieben, an der bald weniger das sexuelle Erwachen des Halbwüchsigen interessiert als die Schrullen der beiden Hauptfiguren - beide überdies heute noch hochbetagt in St.Gallen lebend. So erzählt Hürlimann von einer verstockten Welt in der Schweizer Provinz der anbrechenden 60er-Jahre, in denen Sitte und Strenge über die allzu menschlichen Regungen eines Pubertierenden wachen. In denen die zehn Gebote Gottes über allem stehen - und fleißig von denen gebrochen werden, die sie mit Verve predigen. Immer wieder berichtet Hürlimann von ausschweifenden Kneipenbesuchen des Monsignore und von heimlichen Sehnsüchten des Fräulein Stark, das an der Pforte zur Bibliothek am liebsten einen Kiosk betriebe (und ihn am Ende auch bekommt). Hürlimann verwendet viel augenzwinkernde Zuneigung für die beiden Figuren. Darum auch bleibt unverständlich, weshalb die noch lebenden Porträtierten gegen das Buch in der lokalen Presse wetterten. Unnötig ist diese Begleitmusik schon deshalb, weil man sich mit Hürlimann zwei gute Stunden lang blendend unterhält. Seine Prosa ist geschliffen, seine Sprache witzig - und am Ende nimmt der Autor sich selbst so wenig wichtig wie die beiden Figuren. -Carlo Bernasconi