Kantaten Vol. 1-5

Adam, Buckel, Engen, Richter, Mbo

Musik-CD, Audio CD
Ausgabe vom 5. Oktober 1993
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EAN/ISBN: 0028943936828
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Kantaten Vol. 1-5 - Adam, Buckel, Engen, Richter, Mbo
Wer den Namen Karl Richter nennt, der erwähnt fast zwangsläufig im selben Atemzug auch Johann Sebastian Bach. Untrennbar ist das Lebenswerk Richters mit dem Schaffen des großen Thomaskantors verbunden. In Leipzig, wo Bach einst einen großen Teil seiner Musik komponierte und aufführte, nahm auch die Laufbahn Karl Richters ihren Anfang. Der Schüler von Karl Straube und Günther Ramin war bereits mit Anfang Zwanzig Thomasorganist. 1951 entschloss er sich, das Amt des Kantor der Münchner Markuskirche zu übernehmen. Es dauerte nicht lange, da spielte er im Münchner Musikleben eine wichtige Rolle. Er gründete den Münchner Bach-Chor, den er später zu großem Ruhm führen sollte, und revolutionierte die Bachinterpretation, in der Isarmetropole zuvor u. a. von Eugen Jochum geprägt, durch seine leidenschaftlich-virtuose Musizierweise. Schnell breitete sich sein Ruf aus und auch das Interesse der Schallplattenindustrie ließ nicht lang auf sich warten: Die "Deutsche Grammophon" sicherte sich Richter für ihre "Archiv-Produktion", die bei weitem nicht so stark auf die historische Aufführungspraxis festgelegt war wie beispielsweise "Das Alte Werk" bei "Teldec", und begann mit ihm und seinem Münchner Ensemble - nach Aufnahmen u. a. der Bachschen Passionen - schließlich eine umfangreiche Produktion von Bachkantaten. Sicherlich war eine Gesamtaufnahme geplant, denn auch Nikolaus Harnoncourt und Helmuth Rilling arbeiteten zeitgleich an einem solchen Projekt, aber zum Zeitpunkt von Richters Tod waren erst 75 der 199 Kirchenkantaten eingespielt.
Zwei verschiedene Schichten lassen sich bei diesen vermächtnishaft zusammengestellten Aufnahmen unterscheiden: Der größte Teil entstand in den Siebziger Jahren mit einem relativ konstanten Solistenensemble aus Sängergrößen wie Dietrich Fischer-Dieskau, Edith Mathis oder Peter Schreier. Eine kleinere Anzahl wurde bereits in den Sechzigern im Rahmen der Konzerte bei der jährlichen Bachwoche Ansbach produziert. Interessant ist es, dass Richter seine "romantisierende" Aufführungspraxis erst in der zweiten Phase wirklich auf die Spitze getrieben hat: Edith Mathis etwa versetzt fast alles, was sie singt, mit ihrer intensiv-vibratoreichen Stimmgebung unter eine Dauerspannung, die einer differenzierten Behandlung der Sprache und ihrer musikalischen Figuren diametral entgegengesetzt ist. BWV 51 "Jauchzet Gott in allen Landen" mit einem teilweise grotesk forcierenden Pierre Thibaud als Trompeter entbehrt dadurch jeder Eleganz. Fischer-Dieskau, der u. a. die drei Solokantaten BWV 56, 82 und 158 bestreitet, übertreibt hingegen die Hervorhebung einzelner Worte und musikalischer Gesten in unorganischer Weise. Wie schlicht und bezaubernd meisterte hingegen im Jahre 1961 Ursula Buckel die schwere Sopranarie in BWV 147 "Herz und Mund und Tat und Leben"; auch dem Bassisten Kieth Engen gelang etwa die bewegte Bassarie aus BWV 8 "Liebster Gott, wann wird ich sterben" weit überzeugender als Vieles, was Fischer-Dieskau später an Koloraturen zu bieten hat.
Freilich gibt es auch in den Sechziger Jahren schon die monotone Stakkato- oder Legato-Spielweise, die den Orchestersatz schwerfällig und gleichförmig macht. Ebenso wenig ist der Gesang des Chors vom Ausdrucksgehalt der Worte getragen. Er frisst sich mit gestoßenen Koloraturen und allzu offener Stimmgebung durch die großen Eingangschöre, ganz unhistorisch colla parte von der grell registrierten Orgel unterstützt.
Manches andere könnte noch aufgezählt werden, was heute unseren Ohren ganz fremd ist. Aber dennoch hat Karl Richter mit seinem Charisma und seiner leidenschaftlichen Liebe zu Bach einst ein großes Publikum begeistern und zu dieser Musik hinführen können. Mit musikantischem Instinkt und energischem Zugriff befreite er Bachs geistliche Werke von einer pastos-weihevollen Aufführungspraxis, die sich zuvor etabliert hatte. Aus dieser Perspektive betrachtet, dokumentieren die vorliegenden Aufnahmen einen bedeutenden Abschnitt der Interpretationsgeschichte, der heute leider kaum mehr mit der unmittelbaren Faszination, die Richters Musizierstil zweifellos hatte, erlebt werden kann. -Michael Wersin